Prof. Dr. Wolfgang Ernst:
 PRÄSENZERZEUGUNG - WIE MEDIENARCHIVE UNSEREN ZEITSINN ERGREIFEN (abstract)

Bislang waren Archive, obgleich begriffen als Hüter historischer Zeit, zumeist räumlicher Natur,
"l'espace de l'archive" (Michel de Certeau). In der Tat meint der Begriff nicht nur das administrative Gedächtnis, die Gesamtheit der aufgespeicherten Dokumente, sondern eben auch die Institution und das Gebäude,
also die Architektur des Archivs. Logistisch entsprach dem das starre System der Klassifikation seiner Dokumente: eher topologisch denn chronotopisch. Jeder Historiker kennt die Erfahrung: Im Archiv sitzend, spricht zunächst einmal nichts zum Forscher; stumm lagern Aktenfaszikel in den Regalen, sprachlos entfalten sich Buchstabenketten auf den geöffneten Blättern. So läßt Platons schriftlicher Dialog Phaidros es Sokrates bereits in der ersten Medienkritik des Abendlandes sagen: Buchstaben scheinen zu reden, aber befragen wir sie, antworten sie nicht. Die Verlebendigung des schriftlich Fixierten fand allein im Menschen statt, dem Ort der operativen Dekodierung von alphabetischen Symbolen im Moment der Lektüre. Mit technologischen
(statt schlicht kulturtechnischen) Speichermedien ändert sich diese Situation: die Apparate selbst vermögen, unter Strom, sinnliche Präsenz zu erzeugen. Lag beim schriftlichen Text die konkrete Aktualisierung ganz auf seiten des Rezipienten, aktualisieren die elektronischen Medien von sich aus das Geschehen bzw. Aufgenommene (Hans-Dieter Kübler).

Waren Archive bislang primär Orte räumlich aufgehobener Zeit namens "Geschichte", fabriziert im Format alphabetischer Texte, vermögen die audiovisuellen Archive Zeit selbst zu vollziehen - eine radikale Temporalisierung des Archivs auf Signalebene. Signale sind per definitionem im Unterschied zu Symbolen, etwa Buchstaben, kleinste physikalische Ereignisse in der Zeit. Dies ist möglich, gerade weil hier ein Wechsel vom schriftbasierten Archiv zum Archiv des Realen von physiologischen Signalströmen stattfindet.
Zahlreich sind seit dem späten 19. Jahrhundert die metaphorischen und meßtechnischen Analogien zwischen der Geschwindigkeit von Nervenreizungen im Menschen und der Verteilung von Impulsen in elektrischen Netzen. Es ist diese Ebene sensorischer Reizung, dieeinen neuartigen Kurzschluß von Kultur und Elektrizität entdeckt: "Die Elektrizität besitzt die gleichen Eigenschaften wie die akustische Welt: sie ist simultan und überall gleichzeitig" (Marshall McLuhan).

Im digitalen Archiv schließlich kehrt unversehens das Regime des Symbolischen zurück. Doch im Unterschied zum klassischen Archiv sind diese Symbolketten erstens nicht mehr nur alphabetischer, sondern radikal alphanumerischer, letztendlich mathematischer Natur, und zweitens ist dieser Code gekoppelt an eine technologische Instanz, die - im Unterschied zu klassischen Dokumenten auf Papier - selbständig das zu vollziehen vermögen, was die Symbole ihnen sagen. Im speicherprogrammierbaren Computer - denn davon ist nun die Rede - nistet ein Archiv, dessen Akzent sich vom Raum zu mikrozeitlichen, mithin zeitkritischen Prozessen verlagert hat. Zur Zeit wird hier der Raum. Lange war der Zeitbegriff selbst an das Bild des Flusses und des Fließens gebunden. Doch strömen Daten in Computern nicht mehr schlicht als Strom, sondern bilden Zahlenwerke, und erinnern damit an den von Aristeles vermuteten ursächlichen Zusammenhang von Zeit
und Zahl; seiner Physik zuflge entsteht Zeit erst im Akt der Messung von Bewegung, also von Kalkulation, resultierend im Takt der Uhrzeit. Ein fernes Echo ertönt darauf von Seiten der symbolverarbeitenden Maschine: "Treat time as discrete" (Alan M. Turing).



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